Manchmal hilft ein einfaches Bild, um komplexe Dinge verständlich zu machen.
Das Rückenmark kann man sich wie ein Haustier vorstellen:
- Es lebt im eigenen Körper,
- es reagiert sensibel auf die Umgebung,
- es lernt durch Wiederholung,
- und es lässt sich sowohl aufschrecken als auch beruhigen.
1. Rückenmark als eigenständiges Zentrum
Die moderne Neurowissenschaft beschreibt das Rückenmark nicht nur als „Kabel“, sondern als ein eigenes Integrationsorgan. Viele Bewegungsprogramme – Gehen, Schlucken, Atmen – sind hier gespeichert.
Tierexperimente (z. B. bei Mäusen und Katzen) haben gezeigt: selbst wenn die Verbindung zum Gehirn unterbrochen wird, können die Tiere rhythmische Bewegungen wie Laufen oder Treten weiterhin ausführen.
Man spricht von Central Pattern Generators (CPGs) – neuronalen Netzwerken, die komplette Bewegungsabläufe autonom im Rückenmark erzeugen.
Das Gehirn gibt also nicht jeden Schritt einzeln vor, sondern nur grobe Signale: „Start“, „Stop“, „schneller“, „langsamer“. Das eigentliche Programm läuft weitgehend selbstständig unten im Rückenmark.
2. Wenn Stress die Muster stört
Unter Dauerstress geraten diese Programme aus dem Takt.
- In der westlichen Medizin zeigt sich das als Tremor, Faszikulationen oder Spastik.
- Im Daoismus würde man von „innerem Wind“ sprechen.
- Im Ayurveda entspricht es einer Vāta-Störung: zu viel Bewegung, nicht gehalten durch Substanz.
- Im Buddhismus (Satipaṭṭhāna) wird beschrieben, wie Anspannung den Körper von seiner Grundruhe entfremdet.
Alle Systeme beschreiben dasselbe: Stress „verwildert“ das Haustier Rückenmark.
3. Möglichkeiten der Harmonisierung
So wie ein Haustier beruhigt werden kann, lassen sich auch Rückenmarks-Muster harmonisieren.
- Freundliche Präsenz: Das Rückenmark „fühlt“, ob Sicherheit da ist. Polyvagal-Theorie zeigt, dass sich im ventral-vagalen Zustand Muskeltonus und Reflexe beruhigen.
- Sanfte Wiederholung: langsames Gehen, Atemübungen, kleine Bewegungsformen – im Daoismus QiGong, im Ayurveda sanfte Vāta-Übungen, im Buddhismus das stille Beobachten von Empfindungen.
- Harmonisierung statt Zwang: Nicht mit Gewalt stilllegen, sondern Resonanzräume schaffen, in denen die Muster von selbst ruhiger werden.
4. Anschluss an die Wissenschaft
- Neurophysiologie: Rückenmark enthält autonome Bewegungsprogramme (CPGs), die auch ohne Gehirnaktivität laufen können.
- Psychoneuroimmunologie: Stress wirkt nicht nur „oben“, sondern bis in Rückenmark und Zellen hinein.
- Klinische Beobachtungen: bei ALS, Parkinson und nach Schlaganfällen ist sichtbar, dass der Umgangston – freundlich oder ängstlich – unmittelbar Muskeltonus und Bewegungsmuster beeinflusst.
Fazit
Das Bild vom Rückenmark als Haustier ist mehr als eine Metapher. Es zeigt:
- Wir haben es mit einem eigenständigen Organ der Bewegungsmuster zu tun.
- Stress bringt es aus dem Gleichgewicht.
- Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Gelassenheit helfen, die Muster wieder zu beruhigen.
Damit entsteht eine Brücke: zwischen alten Traditionen (Ayurveda, Daoismus, Buddhismus) und moderner Neurowissenschaft – und das Rückenmark wird sichtbar als Partner, nicht nur als Kabel.
Quellen / Anschluss an Forschung
- Grillner S. (2006): Biological pattern generation: the cellular and computational logic of networks in the vertebrate spinal cord. Neuron 52(5):751–766.
- Kiehn O. (2016): Decoding the organization of spinal circuits that control locomotion. Nature Reviews Neuroscience 17:224–238.
- Porges S. (2011): The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-regulation.
- Ayurveda: Charaka Saṃhitā, Sūtrasthāna Kapitel 12 – Beschreibung der Vāta-Störungen.
- Daoismus: Huangdi Neijing, Suwen Kapitel 35 – Konzept des „inneren Windes“ (風, fēng).
- Buddhismus: Mahāsatipaṭṭhāna-Sutta (Dīgha-Nikāya 22) – Beobachtung von Körperempfindungen und deren Beruhigung.