Doch – das ZNS kann noch!

Ein Zwischenruf zur zentralen Plastizität bei ALS

Einleitung

Die Annahme, das zentrale Nervensystem (ZNS) sei bei Erwachsenen – und erst recht bei neurodegenerativen Erkrankungen – nicht mehr plastisch, ist tief verwurzelt. Bei ALS wird diese Haltung fast dogmatisch vertreten: Degeneration gilt als linear, unumkehrbar, unvermeidlich.

Doch neue Forschung und konkrete Beobachtungen zeigen ein anderes Bild:

Das ZNS kann noch.
Nicht in jedem Moment, nicht auf jede Weise – aber unter bestimmten Bedingungen.

Dieser Text fasst zusammen, was aktuelle Studien, kontemplative Praxis und pflegerische Erfahrung gemeinsam andeuten:

Zentrale Plastizität bleibt möglich – wenn das System Sicherheit, Freundlichkeit und funktionale Einladung erfährt.


1. Neue Forschung: Interneuronen und Schicksalsplastizität

Im April 2025 publizierte das Fachjournal iScience eine Studie zur sogenannten „Fate Plasticity“ – also zur Fähigkeit neuronaler Subtypen, ihre Identität im adulten ZNS noch einmal umzubilden.
Die Forschenden zeigten:

  • Interneuronen können auf Umweltreize und interne Signale hin ihre Spezifikation verändern,
  • genetische Programme sind nicht vollständig fixiert, sondern konkurrieren und koexistieren,
  • selbst im ausgereiften Gehirn bleibt ein Modulationsspielraum bestehen.

Diese Erkenntnisse zeigen:

Was wir für stabil hielten, ist in Wirklichkeit dynamisch – wenn man das System richtig anspricht.


2. Beobachtung & Hypothesen: Drei Zugänge zur Plastizität bei ALS

(a) Zunge & Speichelfluss als Marker plastischer Restmuster

Die bewusste Platzierung der Zungenspitze am Gaumen und die freundliche Annahme des Speichelflusses können – selbst bei fortgeschrittener ALS – zu spürbarer Regulation führen.
Diese Restmuster deuten auf erhaltene, aktivierbare neuronale Verschaltungen, die durch vegetativ-sensorische Rückkopplung erreichbar sind.

(b) Annahme statt Abwehr als biologischer Schalter

Das bewusste „Ja“ zum Speichelfluss – statt reflexhafter Abwehr – öffnet den Weg zu einem anderen Modus:
Vom Kampf gegen Symptome zur Integration funktionaler Signale.

Das System beginnt erst dann umzubauen, wenn es nicht mehr fliehen muss.

(c) Freundliche Präsenz als Startbedingung für Umbau

Der sogenannte „Happy Baby“-Ansatz beschreibt einen Zustand tiefer Sicherheit, spielerischer Motivation und innerem Lächeln.

Lernen geschieht nur dort, wo der Körper sich wirklich sicher fühlt.
Nicht unter Anstrengung – sondern in Geborgenheit entstehen neue synaptische Wege.


3. Die tiefere Einsicht: Spastik als verfestigter Stress

Spastik bei ALS ist nicht nur Symptom – sie ist oft Ausdruck jahrzehntelang verinnerlichter Spannungszustände.

Das Nervensystem wiederholt, was es am häufigsten erfahren hat: Anspannung.
Was aber, wenn wir es lehren, wieder zu entspannen?

Die beschriebenen Zugänge sind keine „Therapien“, sondern Einladungen.
Nicht zur Rückkehr in alte Funktionen, sondern zur Öffnung neuer, kleiner, leiser Wege.


4. Schlusswort: Der Zwischenruf bleibt offen

Dieser Text ist kein Manifest, keine Anleitung, kein Versprechen.
Er ist ein Zwischenruf – aus Pflege, Praxis und Forschung.
Ein Hinweis darauf, dass Zentralnervensystem und Mensch mehr können, als wir ihnen oft zutrauen.

Vielleicht geht es nicht darum, ALS zu besiegen – sondern darum, dem System eine neue Sprache beizubringen.


Abstract (English)

New research challenges the notion that the adult central nervous system is no longer plastic – especially in neurodegenerative conditions like ALS. A recent study (iScience, April 2025) shows interneuron identity can remain modifiable through competing genetic programs. Combined with clinical observations and contemplative practice, we hypothesize that neuroplasticity persists in ALS when conditions of safety, gentle presence, and sensory feedback are present. This article outlines three hypotheses – tongue/saliva coordination, acceptance over resistance, and the “Happy Baby” state – suggesting that subtle, deeply embodied pathways to reorganization may still exist.

Keywords:
ALS, neuroplasticity, fate plasticity, interneurons, sensory feedback, vagus nerve, acceptance, friendly presence, Happy Baby, vegetative integration, silent sitting, stress embodiment, relaxation, neurodegeneration