Sai Weng verliert sein Pferd


Sai Weng
塞翁失馬 – Der alte Mann vom Grenzgebiet verliert sein Pferd

Glück und Unglück wandeln sich gegenseitig,
ihre Veränderung ist schwer zu erkennen.

Im Grenzgebiet lebte ein Mann von großer Einsicht.
Seine Weisheit, so erzählt man sich, beruhte auf langer Übung des Stillen-Sitzens, durch die er die Wandlungen von Glück und Unheil zu durchschauen vermochte.

Eines Tages lief sein Pferd ohne Grund davon und geriet zu den Hu (Xiongnu).
Alle Menschen bedauerten ihn.
Sein Vater aber sagte:
„Warum sollte das nicht ein Glück sein?“

Nach einigen Monaten kehrte sein Pferd zurück – und brachte ein prächtiges Hu-Pferd mit.
Alle Menschen gratulierten ihm.
Sein Vater sagte:
„Warum sollte das nicht ein Unglück sein?“

Die Familie besaß nun gute Pferde.
Sein Sohn liebte das Reiten,
stürzte jedoch und brach sich das Bein.
Alle Menschen bedauerten ihn.
Sein Vater sagte:
„Warum sollte das nicht ein Glück sein?“

Ein Jahr später fielen die Hu in großer Zahl ins Grenzgebiet ein.
Alle jungen Männer spannten ihre Bögen und zogen in den Kampf.
Von den Bewohnern des Grenzgebietes starben neun von zehn.
Nur dieser Sohn blieb verschont – wegen seines Hinkens.
So konnten Vater und Sohn sich beide retten.

Darum:
Glück wird zum Unglück,
Unglück wird zum Glück.
Die Wandlung kennt kein Ende,
ihre Tiefe ist unergründlich.


Sai Weng lost his Horse

ThemeSai WengLoka-dhamma Sutta
Eight worldly windsGain / loss (horse, son, war)Gain & loss, fame & ill-fame, praise & blame, joy & pain
Impermanence“祸之为福, 福之为祸” — “Misfortune turns to fortune, fortune to misfortune.”“Aniccā … vipariṇāma-dhammā” — “These are impermanent, subject to change.”
Inner stanceThe old man does not rejoice or grieve; he waits for the next turn.The wise disciple does not approve or disapprove; he sees them as they are.
Pedagogical functionSmall parable, easy to retell.Systematic list recited to monks for daily reflection.

Wer ist Sai Weng?

Sai Weng (塞翁) ist keine historische Person, sondern eine literarische Figur, die erstmals im 2. Jahrhundert v. Chr. im daoistischen Werk Huainanzi 淮南子 auftaucht. Der Name ist eine Kurzform für „der alte Mann (翁 wēng) vom Grenzort Sai (塞 sài)“. Er lebt also nicht irgendwo in China, sondern genau an der Grenze – ein Ort, an dem die Kategorien „innen/außen“, „Freund/Feind“, „Glück/Unglück** besonders fließend sind.

Was macht ihn besonders?

  1. Pferdezüchter aus Leidenschaft
    Sai Weng ernährt sich vom Züchten und Halten von Pferden. Das Tier war damals Statussymbol, Nutztier und Kriegsgerät zugleich; sein Wegfall oder Gewinn kann eine Familie ruinieren oder reich machen.
  2. Gleichmut als Lebenskunst
    Statt Freude oder Kummer zeigt er Gleichmut: „Wer weiß, was daran gut oder schlecht ist?“ Damit verkörpert er zentrale daoistische Ideale:
  • Wu wei 無為 – Nicht quer zum Strom stellen, sondern dem Lauf der Dinge vertrauen.
  • Yin-Yang-Integration – In jedem „Yin“ steckt bereits das kommende „Yang“ und umgekehrt.
  1. Sprichwort und Alltags-Reminder
    Im modernen China sagt man bei plötzlichem Pech „Sai Weng shi mǎ 塞翁失馬, yān zhī fēi fú 焉知非福“ – „Sai Weng verlor sein Pferd; wer weiß, ob’s kein Segen ist?“. Das dient als geduldiger Stoßgebet-Ersatz, wenn Flugzeuge verspätet sind oder das Handy ins Klo fällt.

Fazit

Sai Weng ist ein Archetyp der Gelassenheit. Er lehrt, dass wir Ereignisse selten in ihrer langfristigen Bedeutung erfassen können. Wer heute ein Pferd verliert, kann morgen einen Sohn retten – und wer einen Sohn rettet, weiß nie, welches Pferd dadurch wieder davonläuft.